Agile Leadership #3: Der Mythos einer perfekten agilen Organisation
Ich habe leider keine guten Nachrichten: es gibt ihn nicht, den perfekten, mustergültigen Ansatz der agilen Organisation.
Und das lässt sich auch ganz einfach erklären: Jede Organisation, jedes Unternehmen verfügt über eine eigene Historie, Entwicklungsgeschichte und Unternehmenskultur – diese anzuerkennen und dort agiler zu machen, wo es nötig ist, anstatt Agilität zum falschverstandenen Ziel zu erklären, darauf kommt es an. Wir haben dazu Bernd Oesterreich und Manfred Brandstätter, zwei Pioniere der agilen Szene, interviewt.
Agilität ist keine Kennzahl
Gefällt Ihnen der neue Audi A4? Ich persönlich habe noch nie verstanden, wie man der mächtigen Karosserien von Audi etwas abgewinnen kann. Anders mein Kollege: für Ihn stellt sein A4 die perfekte Kombination von Form und Funktionalität dar. Schönheit liegt unumstritten im Auge des Betrachters. Mit dem Thema Agilität verhält es sich ähnlich. Gleichermaßen wie Schönheit im Auge des Betrachters liegt, ist der optimale Agilitätsgrad von Unternehmen etwas sehr Individuelles. Viele Unternehmen, die versuchen sich auf ihrem Weg zur agilen Organisation an Idealen anstatt an ihrer Organisation und ihrem individuellen Kontext zu orientieren, werfen frustriert das Handtuch. Natürlich braucht es die Vision einer anpassungsfähigen Organisation und selbstverständlich zählen Fähigkeiten, wie das frühe Erkennen von Veränderungen, das Vermeiden strikter Hierarchien und die Reduktion von Silodenken zu den Erfolgsbausteinen, um diese Vision irgendwann mal Realität werden zu lassen. Aber mal ehrlich, kennen Sie eine Organisation mit mehr als 20 Mitarbeitern die ohne Hierarchie auskommt? Kennen Sie einen Manager, der sagt, dass man Veränderungen in der Umwelt möglichst spät antizipiert?
Agilität ist das Mittel, um die Anpassungsfähigkeit zu erhöhen
Wir sind der Sache auf den Grund gegangen. Im Gespräch mit zwei Experten, Manfred Brandstätter, Wirtschaftstrainer, Dozent und Organisationsberater so wie Bernd Oesterreich, Autor und einer der deutschsprachigen Pioniere für Organisationsentwicklung, haben wir das Buzzword „agile Organisation“ kritisch hinterfragt und Erfahrungen hinsichtlich der Transformation zur Organisation der Zukunft ausgetauscht. Dabei ist schnell klar geworden: Agilität ist kein Wundermittel, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Schluss also mit nichtssagenden Management-Parolen. Konzentrierten wir uns besser darauf, warum wir eigentlich agil werden wollen: um die Anpassungsfähigkeit von Organisationen zu erhöhen.
„Agilität ist nur das Mittel zum Zweck. Der Zweck ist meines Erachtens die Anpassungsfähigkeit einer Organisation zu erhöhen.“ Bernd Oesterreich
Im Moment stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Automobilindustrie die Kurve kriegt. Oder werfen Sie einmal einen Blick auf die Medienindustrie: statt ein neues Geschäftsmodell zu erfinden, versuchen die großen Medienkonzerne sich gesetzliche Möglichkeiten zum Geld verdienen zu schaffen. Bernd Oesterreich interpretiert diese Situation folgendermaßen: „Das sind in Wirklichkeit die letzten Zuckungen dieser Unternehmen. Entweder sie gehen über kurz oder lang den Bach runter oder sie schaffen es, ein neues Geschäftsmodell zu etablieren. Jene, die überleben, haben Anpassungsfähigkeit bewiesen.“ Hierarchische Linienorganisationen täten sich in diesen dynamischen Zeiten natürlich schwer, weil sie erstmal irgendwie rauf und runter kommunizieren müssten und nicht einfach über Abteilungs- und Hierarchiegrenzen hinweg lösungsorientiert agieren könnten, weiß Oesterreich. Da ist dann auch eine kontinuierliche Ausrichtung an den Bedürfnissen der Kunden oder eine iterative Vorgehensweise bei der Entwicklung und Umsetzung der Strategie keine einfache Übung. Dass das Bedürfnis nach flexiblen Strukturen und Arbeitsweisen vorhanden ist, zeigt auch die hohe Popularität von SCRUM. SCRUM funktioniert in unseren Zeiten, weil es eben keinen in Stein gemeißelten Projektstrukturplan repräsentiert, sondern den Anforderungen erlaubt, sich zu ändern und diese nach Priorisierung umsetzt. Agilität als Mittel eben, um den Zweck der optimalen Kundenorientierung zu erfüllen.
Blankes Chaos oder kontrollierter Kontrollverlust?
Perfektion sei in der Sache gut, aber menschlich unmenschlich und daher letztendlich kontraproduktiv, sagte der Wirtschaftspsychologe Rainer Buchner einmal. Und so spiegelt sich auch die höchste Form der Anpassungsfähigkeit durch übermäßigen Individualismus in den Nachteilen von agilen Werten und Prinzipien wider. Im Kontext von Organisationen bedeutet das mangelnde Standardisierung und fehlende übergeordnete Koordination. Manfred Brandstätter verdeutlicht das an einem Beispiel: „Ein Automobilhersteller, der angepasst an jedes Land eine individuelle Version eines Kleinwagens produziert, handelt erstens wirtschaftlich ineffizient und zweitens fehlen die nötigen Grundvoraussetzungen, um den Kleinwagen im Ganzen in eine neue Version zu upgraden.“ Organisationale Rahmenbedingungen sind also auch in einer agilen Organisation zwingende Voraussetzung für Effizienz und Leistungsfähigkeit.
„Der Nachteil von agilen Methoden ist der, dass du den Weg in der Standardisierung der eigenen Abläufe verlässt.“ Manfred Brandstätter
Der (Irr-)weg zum passenden Framework.
Nun gibt es Ansätze um agile organisationale Rahmenbedingungen zu schaffen wie Sand am Meer: Soziokratie, Holokratie, Scaled agile Frameworks, die agile Kreisorganisation, und so weiter… Jurgen Appelo , Querdenker und Management-Pionier, bezeichnet diese Vielfalt als „collections of good ideas, offered in terrible packaging“. Viele davon sind markenrechtlich-geschützte Franchisesysteme, die Unternehmen viel Geld kosten und Richtlinien in Form von Lastenheften mit sich führen. Um es gleich vorwegzunehmen: es gibt ihn nicht, den mustergültigen und perfekten Ansatz der agilen Organisation. Und das lässt sich auch ganz einfach erklären: Jede Organisation, jedes Unternehmen verfügt über eine eigene Historie, Entwicklungsgeschichte und Unternehmenskultur – ebenso wie jedes Produkt und jeder Markt spezifische Anforderungen an Unternehmen stellt.
„In der Praxis fehlt Unternehmen oftmals die Bereitschaft, Zeit und Geld zu investieren oder zeitweilig auf etwas Leistung/Effizienz zu verzichten um überhaupt Organisationsentwicklung zu betreiben.“ Bernd Oesterreich
In der Praxis fehlt Unternehmen oftmals die Bereitschaft, Zeit und Geld zu investieren oder zeitweilig auf etwas Leistung/Effizienz zu verzichten um überhaupt Organisationsentwicklung zu betreiben. – Tatsachen, die man laut Bernd Oesterreich nicht ignorieren sollte. Im Gegenteil: umso mehr ist jedes einzelne Unternehmen gefordert, nicht länger auf Rezepte oder Vorlagen zu hoffen, sondern seinen eigenen Weg zu finden. Agilität kann daher auch nur die Antwort auf eine spezifische Problemstellung sein – und kein allumfassendes Heilsversprechen. Dann, wenn es zum Beispiel heißt, wir verstehen unsere Kunden nicht gut genug. Oder wenn Unternehmen vor der Herausforderung stehen, zwar gute Qualität zu liefern, aber mit einem wenig konkurrenzfähigen Pricing oder zu langen Lieferzeiten kämpfen. In all diesen Fällen macht es keinen Sinn über die Veränderung der kompletten Organisationsstruktur nachzudenken. Wesentlich zielführender wäre es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine bessere Zusammenarbeit von Mitarbeitern aus dem Vertrieb und der Produktentwicklung gewährleisten. Manfred Brandstätter schlägt in so einem Fall zum Beispiel vor, einem Pilotteam für einen bestimmten Zeitraum ein Budget zur Verfügung zu stellen, um diese abteilungsübergreifende Zusammenarbeit auszuprobieren und innerhalb der Firma eigenständig wie eine Firma zu agieren.
Was heißt das nun für die agile Führungskraft?
Also doch wieder zurück zum Start? Doch keine agile Organisation? Nein, das würden wir nicht empfehlen. Im Gegenteil: in vielen Fällen möchten wir Führungskräften sogar Mut zusprechen und sie darin bestärken, ihren Einschätzungen zu vertrauen und den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Die Zukunft wird Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von uns fordern und beides können uns agile Arbeitsweisen ermöglichen. Wovor sich Führungskräfte allerdings hüten sollten, ist allzu unreflektiertes Aufspringen auf einen Trend, der zwar an sich gut und sinnvoll, in vielen Fällen allerdings nicht mehr das Mittel zum Zweck, sondern zum Zweck selbst erhoben wurde. Vertrauen Sie daher Ihrem Bauchgefühl und Ihrer Einschätzung Ihres Unternehmens – Sie wissen, wo es in Ihrem Unternehmen Weiterentwicklungsbedarf gibt und was es zu bewahren gilt. Vergessen Sie nicht, dass es darauf ankommt, anpassungsfähig und kundenorientiert und nicht primär agil zu sein. Und wie diese Agilität in Ihrem Unternehmen aussehen könnte, das wissen Sie und Ihr Team am besten.