Dualität

Dualität in Organisationen

Viele Strukturen und Systeme, die wir in Organisationen geschaffen haben, können die Komplexität unserer Welt nicht mehr abbilden. Was heute zählt, ist die Fähigkeit zur Dualität. Das Vereinen von zwei scheinbar gegensätzlichen Kräften. Wie das in Organisationen konkret aussehen kann, erkunden wir in diesem Artikel.

Gondelfahrt, Erstbesteigung oder Bergnot?

Was tun, wenn uns Pandemien, technologische Innovationen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum plötzlichen Kurswechsel zwingen? Wie vorgehen, wenn Kunden völlig neuartige Lösungen fordern? Wenn wir in unseren Workshops mit Führungskräften diese Fragen diskutieren, dann greifen wir gerne auf das Cynefin-Modell von Dave Snowden zurück. „Cynefin“ bedeutet Lebenswelten. Das Modell dient uns als Landkarte. Es hilft, den Kontext zu erkennen und die jeweils passende Arbeitsweise zu wählen. Zur Visualisierung verwenden wir nachfolgendes Bild: Vier Berge, vier unterschiedliche Szenarien – und damit auch vier verschiedene Wege, den Gipfel zu erreichen.

Das Cynefin-Modell nach Dave Snowden

Simpel: Die Gondelfahrt

Ein klares Ziel, ein klarer Weg: Die Gondel schwebt ruhig Richtung Gipfel. Die Abläufe sind standardisiert. Die Herausforderung auf den Gipfel zu kommen wurde durch einen wiederholbaren Prozess, die Gondelfahrt, gelöst. Im Kontext von Organisationen sind damit Routineaufgaben gemeint. Sie werden mit Hilfe klarer Regeln und fester Abläufe umgesetzt. Es geht darum, Prozesse zu optimieren und zu standardisieren, damit Arbeit stabil und effizient verlaufen kann. Der Fokus liegt auf Wiederholbarkeit und Zuverlässigkeit. Klare Regeln, klar definierte Aktivitäten. Kreativität ist hier nicht gefragt. Wir befinden uns hier in jenem Bereich, den Organisationen in der Regel gut beherrschen. Kein Wunder: Wurden viele unserer Organisationen vor langer Zeit für genau diese Art von Herausforderungen geschaffen.

Kompliziert: Planung ist das halbe Leben

Die zweite Ausgangssituation: Keine Gondel, kein festgelegter Pfad. Das Ziel klar vor Augen – der Weg dorthin unklar. Jetzt gilt: Route planen, Ausrüstung bestimmen und einschätzen, welche Kompetenzen benötigt werden. Dieser Kontext lässt sich mit Projektumgebungen in Unternehmen vergleichen. In diesem Bereich ist es notwendig, mehrere Wege durchzudenken. Zu entscheiden, welcher Weg am besten zum Ziel führt. Planung und Steuerung sind gefragt. Viele Unternehmen haben in den letzten Jahrzehnten gelernt, mit dieser Art von Vorhaben umzugehen. Vorhaben, die für Linienorganisation oder Prozesse zu komplex sind. Sie haben gelernt, dass Projektmanagement eine unverzichtbare Kernkompetenz ist, wenn es um die Umsetzung und Entwicklung dieser Vorhaben geht. Und trotzdem merken sie an den täglichen Ressourcenkonflikten zwischen Linientätigkeiten und Projektarbeit wie schwierig es ist, diese beiden Welten unter einen Hut zu bekommen.

Komplex: Aufbruch ins unbekannte Terrain

Raus aus der Komfortzone: Jetzt kommt die Erstbesteigung. Wir stehen vor einem unbekannten Berg, der Gipfel liegt im Nebel, der Weg dorthin wurde noch nicht erforscht. Wir betreten Neuland und sind gefordert, in einem unbekannten Terrain nach Lösungen zu suchen. In diesem Bereich ist uns jegliche Planbarkeit abhanden gekommen. Weder eine strukturierte Projektplanung, noch Best Practices oder Prozesse bringen uns weiter. Wir haben keine andere Wahl, als den Weg während des Gehens finden. Exploratives Vorgehen ist gefragt. Agile Arbeitsmethoden und eine Kultur, die zum Experimentieren und Anpassen einlädt, bringen uns voran. In diesen Kontexten sind Organisationen gefordert, Führung und Zusammenarbeit zu überdenken, um Raum für Kreativität und neue Lösungen zu schaffen.

Chaotisch: Überleben im Sturm

Plötzlich bricht der Sturm herein, die Sicht ist stark eingeschränkt, die Orientierung schwierig. Der Fokus liegt auf dem Überleben und einer unmittelbaren Reaktion auf die Gefahr. Chaotische Situationen erfordern rasches Handeln, um Bedrohungen zu minimieren und die Stabilität wiederherzustellen. Herausforderungen dieser Art haben Organisationen in den letzten Jahren immer wieder erlebt. Die weltweite Pandemie, Komponenten- und Rohstoffkrisen oder Kriege in Partnerländern - die Anzahl der Ereignisse und die Häufigkeit ihres Auftretens forderten Anpassungsfähigkeit und Resilienz von Unternehmen. Diese Kompetenzen werden Unternehmen wohl auch in Zukunft benötigen.

Was ist Dualität?

Um in dieser zunehmend dynamischen und komplexen Welt bestehen zu können, ist es für Organisationen wichtig, alle dieser vier Felder zu bespielen zu können. Von standardisierten Abläufen über komplexe Projekte bis hin zu unerwarteten Krisen und neuen, unklaren Herausforderungen. Zoomen wir im Cynefin-Modell aus den einzelnen Bereichen raus, wird uns schnell klar, dass sich die rechte Seite (simpel und kompliziert) stark von der linken Seite (komplex und chaotisch) unterscheidet. Während die rechte Seite auf Planung, Steuerung und Stabilität mit einem klaren Fokus auf Effizienz setzt, fordert die linke Seite Anpassungsfähigkeit und Flexibilität mit einem Fokus auf Innovation und kontinuierlichem Lernen. Wir nennen die Fähigkeit, die Anforderung der rechten wie der linken Seite bewältigen zu können, Dualität.

Dualität ist die Fähigkeit, in zwei Welten zu leben. Stabilität und Innovation. Klare Strukturen und flexibles Netzwerk. Exploitation und Exploration.

Unser Verständnis von Dualität baut auf dem Konzept der organisationalen Ambidextrie auf. Das klingt erstmal wie ein sperriger Managementbegriff. Dabei ist die Grundidee sehr einfach: Es bedeutet Beidhändigkeit. Es geht um die Fähigkeit, gleichzeitig in zwei Welten zu leben. Stabilität und Innovation. Klare Struktur und flexibles Netzwerk. Gondel und Erstbesteigung. Das aktuelle Geschäft weiter zu optimieren – das nennen wir Exploitation. Und gleichzeitig die Zukunft zu erforschen und neue Wege gehen – das ist Exploration.

Organisationale Ambidextrie

Exploitation und Exploration

Exploitation meint die effiziente Nutzung und Optimierung bestehender Ressourcen, Prozesse und Kompetenzen, um kurzfristige Ziele zu erreichen und die operative Stabilität zu sichern. Exploration hingegen steht für das gezielte Ausprobieren neuer Ansätze, für Innovationen und das Erschließen neuer Märkte, um langfristiges Wachstum und Anpassungsfähigkeit zu fördern. Organisationale Ambidextrie vereint Exploitation und Exploration: Sie ermöglicht Unternehmen, bestehende Stärken auszuschöpfen und gleichzeitig Raum für Neues zu schaffen – ein Balanceakt, der in einer dynamischen Umwelt, wie wir sie seit einigen Jahren erleben, für Organisationen entscheidend ist.

Organisationale Ambidextrie vereint Exploitation und Exploration. Sie ermöglicht es Unternehmen, bestehende Stärken auszuschöpfen und gleichzeitig Raum für Neues zu schaffen.

Was bedeutet dieser Balanceakt konkret für die Gestaltung von zukunftsfähigen Organisationen? Mehr Hierarchie, mehr Matrix oder mehr Prozesse können nicht die Antwort sein. Auch das oft verwendete Bild vom Tanker und den agilen Schnellbooten bringt uns hier nicht weiter. Die Organisation der Zukunft ist auch nicht „die“ agile Organisation. Die Organisation der Zukunft schafft es, Dualität nicht nur strukturell zu leben, sondern auch kulturell in die eigene DNA aufzunehmen.

Dualität in der Organisation

Die Organisation der Zukunft integriert Dualität in alle Unternehmensbereiche.

Dualität in der Strategie

Duale Strategieentwicklung und –umsetzung versteht es, strukturierte Strategiearbeit und emergente Strategiearbeit zu vereinen. Das bedeutet einerseits das Entwickeln langfristiger Ziele, die strukturiert in Stoßrichtungen, Vorhaben und Kennzahlen konkretisiert werden, und andererseits auch die Identifikation von Strategieanteilen, die mit kurzfristigem Planungshorizont, mit Hypothesen und Experimenten verfolgt werden. Den gemeinsamen Kompass bieten ein kraftvoller Purpose und eine gemeinsam getragene Vision als Zielbild. Das Ergebnis: eine Strategie, die nicht nur auf PowerPoint Folien besteht, sondern lebt. Eine Balance, die langfristige Orientierung mit dynamischer Anpassung vereint.

Dualität in der Innovation

Innovation in der dualen Organisation bedeutet, sowohl inkrementelle Innovation als auch radikale Innovation zu ermöglichen und in einem Innovationsportfolio auszubalancieren. In diesem wird sowohl die Risikominimierung adressiert als auch mutiges Neu-Denken und Risikobereitschaft ermöglicht. Um diese Rahmenbedingungen zu schaffen, ist es nicht ausreichend, Innovation als isoliertes Thema oder als einen Prozess zu betrachten. In der dualen Organisation ist Innovation tief in der Kultur verankert. Sie ist eine Haltung und keine Methode.

Dualität in Projekten

Projektmanagement ist Umsetzungskompetenz. Dualität im Projektmanagement bedeutet für uns, bewusst zu entscheiden, wann eine klassische, planorientierte Methodik oder ein agiler, iterativer Ansatz angemessen ist. Anstatt Methoden beliebig zu kombinieren, werden je nach Projekteigenschaften die geeignete Vorgehensweise gewählt und die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen. Diese differenzierte Herangehensweise stellt sicher, dass Projektziele entweder durch klare Vorgaben und Planung oder durch schnelle Anpassungen und Lernen im Prozess erreicht werden.

Dualität in Prozessen

Ein dualer Ansatz im Prozessmanagement fordert das Entwickeln und Gestalten einer Prozesslandschaft, die Exzellenz und Experimentierfreude vereint. Das benötigt ein gemeinsames Verständnis davon, wo stark standardisierte Prozesse benötigen werden, um die Qualität zu sichern und die Effizienz zu gewährleisten. Gleichermaßen braucht Dualität in den Prozessen aber auch ein Verständnis dafür, wo Leitplanken zielführender sind als starre Prozesse, weil sie kontinuierliches Lernen und Anpassung besser ermöglichen. Die gemeinsame Basis für beide Welten ist ein gemeinsames Verständnis für Kunden- und Wertstromorientierung sowie eine konsequente Ausrichtung auf die Strategie.

Dualität in der Führung

Dualität in der Führung bedeutet, kontextsensibel und situativ zu agieren. Das bedeutet, in ausgewählten Situationen die Direktive zu sein und klare Ziele zu setzen, um in anderen partizipativ zu führen und Selbstorganisation zu ermöglichen. Während es manchmal darum geht, Klarheit und Richtung vorzugeben, ist es unter anderen Kontextbedingungen wichtig, einen Raum für ein kreatives Miteinander zu öffnen. Es gilt, sowohl Kapitän als auch Coach zu sein. Führung in der dualen Organisation lebt im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Loslassen, zwischen festen Vorgaben und freier Gestaltung. Es ist eine Kunst, den Kontext richtig zu interpretieren, den passenden Rahmen zu setzen und dabei nie die eigentliche Aufgabe der Führung aus den Augen zu verlieren: Menschen zu befähigen, ihr volles Potential zu entfalten.

Dualität in der Organisation und Kultur

Die Anforderungen der Dualität aus den unterschiedlichen Unternehmensbereichen (Strategie, Innovation, Projekt- und Prozesswelt) auch organisatorisch abzudecken, stellt eine zentrale Herausforderung dar. Die einzige Möglichkeit: adaptive Organisationsstrukturen. Diese müssen in der Lage sein, zwei Aggregatszustände einzunehmen: stabil und flexibel. Konkret meint das die Fähigkeit, situationsadäquat und rasch von stabilen Strukturen hin zu anpassungsfähigen Netzwerken zu schalten. Den Switch zwischen einer hierarchischen Struktur hin zu einer flachen und flexiblen Netzwerkstrukturen zu schaffen. Das Fundament dafür ist eine Unternehmenskultur, die beide Arbeitswelten ermöglicht. Sie erträgt das Spannungsfeld zwischen Exzellenz & Performanceorientierung und Experimentieren & Lernen.

Die Organisation der Zukunft

Eine Organisation der Zukunft meistert diese Balance zwischen Stabilität und Wandel, Kontrolle und Freiheit, Effizienz und Kreativität. Sie optimiert das Tagesgeschäft und schafft gleichzeitig Raum für Neues.

Dualität auf allen Ebenen einer Organisation

Dualität bedeutet die Balance zwischen scheinbaren Gegensätzen – ein Zustand, in dem Stabilität und Wandel, Kontrolle und Freiheit, Effizienz und Kreativität nicht im Widerspruch stehen, sondern einander ergänzen. Eine duale Organisation meistert diese Balance. Sie optimiert das Tagesgeschäft und schafft gleichzeitig Raum für Neues. Sie erkennt verschiedene Umweltbedingungen und passt sich diesen an: In stabilen Kontexten setzt sie auf Effizienz. In komplexen Bereichen agiert sie agil. In chaotischen Momenten reagiert sie schnell und flexibel. Die Fähigkeit, Exploitation und Exploration als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen und beide in einer kohärenten Struktur zu vereinen, das ist ihre Stärke. Die zentrale Herausforderung dabei ist es, Spannungsfelder wie feste vs. adaptive Struktur, Hierarchie vs. Selbstorganisation, Kontrolle vs. Autonomie, Risikovermeidung vs. Risikobereitschaft und viele mehr zu integrieren und unternehmensspezifisch zu lösen. Diese Herausforderung gemeinsam mit unseren Kunden zu bewältigen, dafür treten wir an. Wir sind Gefährt*innen in dieser neuen Arbeitswelt und begleiten Organisationen auf ihrem Weg zur Organisation der Zukunft. Auf dem Weg zu einer Organisation, die Dualität beherrscht.

Quelle:

Kotter, J. P. (2014). Accelerate: Building strategic agility for a faster-moving world. Harvard Business Review Press.

Derndinger, F., Groot de, C. (2020): Die ambidextrische Organisation. Erfolgsstrategien in der neuen Unternehmensrealität. Haufe Verlag.

Úbeda-García, M., Claver-Cortés, E., Marco-Lajara, B. & Zaragoza-Sáez, P. (2020). Toward a dynamic construction of organizational ambidexterity: Exploring the synergies between structural differentiation, organizational context, and interorganizational relations. Journal Of Business Research, 112, 363–372. https://doi.org/10.1016/j.jbusres.2019.10.051