Mercedes-Benz.io: Mercedes-Benz Sprungbrett in die digitale Zukunft

Wie sich der Konzern mit einem Start-up in Sachen Agilität und digitale Kompetenz nach vorne bringt

„Wir arbeiten agil, weil es für uns der beste Weg ist, um zu Produkten und Services zu gelangen, die der Kunde wirklich möchte“, sagt Fabian Schwedes, Agile Coach bei Mercedes-Benz.io. Die Mercedes-Benz-Tochter wurde gegründet, um gemeinsam digitale Produkte im Bereich Mercedes-Benz Cars zu entwickeln und die digitale Transformation im Konzern voranzutreiben. Dass das nicht immer ganz einfach ist und wie sie es innerhalb weniger Jahre geschafft haben zu einem wichtigen Partner für Mercedes-Benz zu werden , erzählen die beiden Agile Coaches, Fabian Schwedes und Marc-Steffen Prasse in einem Interview.





Setting Milestones: Mercedes-Benz.io scheint einige Dinge genau anders zu machen als der renommierte Mutter-Konzern. Was gab dem Konzern die Veranlassung ein Start-up wie die Mercedes-Benz.io zu gründen?

Mercedes-Benz.io: Mercedes-Benz erkannte zum richtigen Zeitpunkt, dass sie reagieren muss, wenn sie auch weiterhin am Markt der vernetzten Mobilitätsdienstleister mitmischen möchte. Um den oftmals rigiden und langsamen Strukturen und dem fehlenden Expertenwissen in einer sich schnell verändernden Digitalwelt entgegenzuwirken, integrierte Mercedes-Benz das zwei Jahre zuvor gegründete Start-up Cinteo GmbH und holte sich so eine Art Speed-Boot mit digitaler Expertise ins Haus. Um genau zu sein, in das sogenannte Digitale Haus. So heißt unsere Unit in der wir nun als Mercedes-Benz.io GmbH gemeinsam mit den Kollegen von Mercedes-Benz an der Entwicklung digitaler Produkte und Services arbeiten.



Was genau machen Sie?

Wir sind ein Full-Service-Partner von Mercedes-Benz. Das heißt, wir entwickeln nicht nur die digitalen Services und Produkte, sondern setzen diese auch um. Dazu zählen die Mercedes-Benz Website weltweit und mit allen integrierten Produkten, alles aus dem Bereich e-Commerce und verschiedene digitale Services wie Apps um das Fahrzeug herum.



In Ihrem Vortrag auf der AGILE SALZBURG blicken Sie auf die ersten 3 Jahre Mercedes-Benz.io zurück. Bereits Ihr Vortragstitel, „Growing-up in a Start-up while Growing-up as a Start-up”, weist darauf hin, dass diese Anfangsjahre von sehr viel Lernen, Reifen und Weiterentwickeln geprägt waren. Was kann Ihr Unternehmen heute besser als zu Anfangszeiten?

Die letzten Jahre waren zweifellos von einem enormen Wachstum geprägt: Vor 4 Jahren starteten wir mit ca. 15 Mitarbeitern als Cinteo, heute sind wir bei der Mercedes-Benz.io knapp bei 330 angekommen. Das bedeutet natürlich eine Skalierung in allen Bereichen – was selbstverständlich auch ein ständiges Lernen, Hinterfragen und Weiterentwickeln mit sich bringt: auf organisatorischer, persönlicher aber auch auf technischer Ebene. Hier wirkt sich die geringe Fluktuation von Mercedes-Benz.io sehr positiv aus, weil die Reifeprozesse der Mitarbeiter letzten Endes dem Unternehmen enorm zu Gute kommen.

Natürlich haben wir in dieser Zeit auch Fehler gemacht: zum Beispiel haben wir in einzelnen Projekten, in denen wir nicht so agil arbeiten konnten, wie wir es gewohnt waren, versucht unsere Arbeitsweise mit Druck durchzusetzen. Diesbezüglich sind wir definitiv gereift.



Ihr Unternehmen hat sich für Holacracy als organisationales Framework entschieden. Viele kennen in diesem Kontext die Geschichten von Zappos, Medium und Co., die von Überforderung, Chaos und einer zu hohen Komplexität dieser Organisationsform sprechen. Wie geht es Mercedes-Benz.io damit?

Grundsätzlich gut, allerdings ist Holacracy zu wenig um unsere Organisation zu beschreiben, da wir Holacracy an vielen Stellen weiterentwickelt haben. Darüber hinaus haben wir ein sehr hohes Commitment für Holacracy – ein Großteil der Mitarbeiter versteht und lebt die Idee hinter einer responsiven und agilen Organisation.

Wir haben zum Beispiel eigene Rollen geschaffen oder Meetings bzw. Zeremonien eingeführt, die wir als sinnvoll erachten. Die Herausforderung unserer Struktur liegt für uns weniger in der Umsetzung, sondern mehr im On-Boarding neuer Mitarbeiter. Es stellte sich in den letzten Jahren heraus, dass es für neue Mitarbeiter einfach Zeit braucht, um dieses System zu durchblicken, hineinzuwachsen und zu verstehen, wie Mercedes-Benz.io tickt. Während unser Framework es ermöglicht neue Mitarbeiter innerhalb weniger Tage einsatzfähig zu machen, benötigt es jedoch meist mehrere Monate, das komplette System und alles, was außerhalb des unmittelbaren Arbeitsbereiches passiert, zu verstehen.



Holacracy funktioniert bei uns, weil wir es als Framework verstehen und Elemente hinzufügen oder verändern, um unseren Bedürfnissen gerecht zu werden.

Marc-Steffen Prasse, Mercedes-Benz.io


Ich nehme an, hier wirkt sich auch das Durchschnittsalter in Ihrem Unternehmen, das bei ca. 30 Jahren liegt, positiv aus. Gibt es trotzdem immer wieder Schwierigkeiten mit dem System und der Kultur von Mercedes-Benz.io zurechtzukommen?

Wir leben 100%ige Selbstorganisation. Das liegt nicht jedem im gleichen Ausmaß. Es behaupten zwar die meisten Menschen von sich selbst, selbstorganisiert zu sein. In einer vollständig selbstorganisierten Umgebung zu arbeiten, ist aber dann für viele doch wieder eine neue Herausforderung. Dann bedeutet Selbstorganisation nicht nur seine Aufgaben selbst zu organisieren, sondern sich auch um den nötigen Support zu kümmern, wenn man nicht mehr weiterkommt. Das ist für viele Mitarbeiter zu Beginn eine Hürde.



Nun funktioniert Holacracy innerhalb Ihres Unternehmens – allerdings muss auch Mercedes-Benz.io mit einem Kontext zurechtkommen, der wesentlich weniger agil ist. Wie funktionieren die Schnittstellen zu Mercedes-Benz als Konzern? Prallen hier Welten aneinander? Sowohl strukturell und organisatorisch als auch kulturell?

Rechtlich wurde die Situation so gelöst, dass wir mit unseren Kollegen vom Digitalen Haus in einem Gemeinschaftsbetrieb zusammenarbeiten. Dort entwickeln wir Produkte und Services – und das ohne holokratische Organisationsstruktur. Dort setzen wir auf Methoden der agilen Produktentwicklung wie SCRUM, Kanban, Nexus, SAFe, etc um Produkte gemeinsam mit Business- und IT-Kollegen zu entwickeln.

Trotzdem war es in den vergangen Jahren mitunter die größte Herausforderung die beiden Welten zusammenzubringen und vor allem, das Beste aus beiden Welten herauszuholen. Natürlich bringt ein Konzern wie Mercedes-Benz nicht jene agilen Strukturen mit, wie wir sie haben und trotzdem müssen wir uns davor hüten, uns anzumaßen, dass wir alles besser machen können. Es gibt durchaus einige Dinge in unserer Zusammenarbeit, die wir von Mercedes-Benz übernommen haben. In der Vergangenheit haben wir öfter einmal den Fehler gemacht und versucht Gemeinschaftsprojekte nur nach unseren Vorstellungen von agil umzusetzen.

Heute sind wir hinsichtlich dessen adaptiver. Heute wissen wir, dass wir jeden dort abholen müssen wo er gerade steht, ob Mercedes-Benz oder Mercedes-Benz.io ist dabei egal. Auf der anderen Seite ist es auch unsere Aufgabe, auf agile Strukturen zu beharren, wo sie wirklich einen Vorteil machen.



Agilität ist keine Religion, sondern der für uns beste Weg zu Produkten und Services zu gelangen, die der Nutzer wirklich möchte. Deswegen arbeiten wir agil und nicht weil es cool oder fancy ist.

Fabian Schwedes, Mercedes-Benz.io  


Man hört es von unterschiedlichsten Unternehmen: Veränderungen stehen und fallen mit dem Erfolg der kulturellen Transformation. Was unternimmt Mercedes-Benz.io diesbezüglich?

Wir haben in den letzten Jahren sehr viel in unsere Kultur investiert: wir haben verstanden, dass wir mit 300 Leuten anders arbeiten müssen als mit 30, dass wir unseren Mitarbeitern Entwicklungspfade anbieten müssen und sich Führung anders gestalten muss. Darüber hinaus haben wir sehr viel an unserer Identität gearbeitet, was uns als Unternehmen besonders beim Wachstum und Wandel von Cinteo zu Mercedes-Benz.io zusammengehalten und geprägt hat.

Kultur kann nicht geplant werden, sondern ist ein natürlicher Entstehungsprozess, den man maximal in gewisse Richtungen bewegen oder auf Basis gemeinsamer Werte erschaffen kann. Dazu gibt es verschiedene Rituale wie ein gemeinsames Barista Frühstück, Lunch Lectures zum Teilen gemeinsamer Erfahrungen und Produkterfolge, sowie saisonale Aktivitäten um die Gemeinschaft zu fördern.

Da wir co-located arbeiten und uns gemeinsame Office Flächen teilen, nehmen auch die anderen Mitarbeiter im Digitalen Haus sehr viel von unserer Kultur und Arbeitsweise wahr und zum Teil auch mit. Dadurch ergeben sich natürlich auch auf viele Vorteile in Hinsicht auf die Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis innerhalb des Digitalen Hauses.



Welche Aufgabe wird Ihnen als Agile Coach hier zuteil? Was können Sie dazu beitragen, dass das gesamte Digitale Haus so flexibel und adaptiv arbeitet und nicht in traditionelle Strukturen und Denkmuster zurückfällt?

Diese Tendenzen sind durchaus immer wieder zu beobachten. Hier sehen wir es ganz klar als unsere Aufgabe, den Finger in die Wunden zu legen und entsprechendes Zusammenarbeiten einzufordern. Dafür haben wir auch das volle Commitment vom Konzern. Unsere Mission war es, mit agilen Strukturen und Arbeitsweisen auf neue Kundenanforderungen schnell und flexibel zu reagieren und Mercedes-Benz damit agiler und adaptiver zu machen. Diese Mission gilt auch heute noch und dafür setzen wir uns auch weiterhin ein.






Gut zu wissen, wenn Sie Ihr Team flexibler und agiler machen möchten.

3 Take-aways von Fabian Schwedes und Marc-Steffen Prasse:

1 – Berücksichtigen Sie die Individualität Ihres Teams! Holen Sie es dort ab, wo es gerade steht und versuchen Sie das umzusetzen, was möglich ist und nicht das, was optimal wäre.

2 – Entwickeln Sie nicht das Team, sondern lassen Sie das Team sich selbst entwickeln. Unterstützen Sie diesen Prozess mit der Erarbeitung gemeinsamer Werte.

3 – Keine Kompromisse bei der Besetzung von Produkt Owner und SCRUM Master. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Besetzung dieser beiden Rollen erfolgskritisch ist. Sie müssen nicht nur von den richtigen Leuten übernommen werden, auch das Zusammenspiel zwischen diesen beiden zentralen Rollen muss funktionieren.





Fabian Schwedes &
Marc-Steffen Prasse

Als Agile Coaches haben Fabian Schwedes und Marc-Steffen Prasse eine zentrale Rolle für die Mercedes-Benz.io. In dieser Rolle unterstützen sie die Umsetzung von agilen Arbeitsweisen und die Weiterentwicklung eines agilen Mindsets – nicht nur auf individueller, sondern auch auf Unternehmensebene. Die beiden SCRUM Master tun das aus Überzeugung – wissen sie doch, dass es gerade die Flexibilität und die Adaptivität ihres Unternehmens waren, die es in den vergangenen vier Jahren vom Start-up zum etablierten Partner der Mercedes-Benz entwickelten.




Das Interview führte Birgit Schreder-Wallinger